Das Grundgesetz garantiert die kulturelle Freiheit aller hier lebenden Menschen

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Bildung, Beteiligung und Demokratie – Was uns das Grundgesetz heute lehrt“ lautete der Titel der Veranstaltung zum Jahrestag des Inkrafttretens des Grundgesetzes am 24. Mai 1949, zu dem die Stadt Mannheim, der Verband Türkischer Unternehmer Rhein-Neckar und – als Impulsgeber dieser Premiere – das Deutsch-Türkische Institut für Arbeit und Bildung gemeinsam eingeladen hatten.

„Wir haben allen Grund, uns mit dem Grundgesetz auseinanderzusetzen, weil es den Orientierungsrahmen für unser Zusammenleben bietet. Und das ist aus meiner Sicht selten so präsent gewesen in der Diskussion, wie im Augenblick“, betonte Dr. Peter Kurz, Oberbürgermeister der Stadt Mannheim, in seiner Eröffnungsrede vor rund 150 Gästen im Jüdischen Gemeindezentrum in F3.

Die Dringlichkeit der Auseinandersetzung mit dem Grundgesetz verdeutlichte Dr. Kurz mit einem Blick auf den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs, in dem grundlegende Fragen neu aufgeworfen würden, etwa: „Wer wir sind, was wir sein wollen, was uns ausmacht, was ist Kultur, was ist vielleicht auch ‚deutsche Leitkultur‘. Das ist ja ein strittiger Begriff, und der einzige Konsens, der mir im Augenblick überhaupt erkennbar erscheint, ist tatsächlich die Berufung auf das Grundgesetz“, erläuterte der Oberbürgermeister.

In besonderer Weise gehe es an diesem Abend zudem um „die Frage der Gerechtigkeit, des Zugangs zu unserer Gesellschaft, der Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft.“ Eine zentrale Voraussetzung hierfür sei das Thema Bildung. „Und hier haben wir gravierende soziale Ungleichheiten in unserer Gesellschaft, die dem Auftrag unserer Verfassung entgegenstehen“, so der Oberbürgermeister. „Von Geburt an höchst unterschiedliche Chancen zu haben für die Integration in die Gesellschaft, ist ein Missstand, den wir nicht hinnehmen dürfen.“

„Die eigene Meinung zu äußern und darum zu streiten, gehört zur Demokratie“, hatte Majid Khoslessan, 1. Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Mannheim, zuvor in seinem Grußwort bekräftigt. „Im Talmud wird unterschieden zwischen dem konstruktiven und dem destruktiven Streit. Uns wird nahegelegt, konstruktiv zu streiten und gerechte Lösungen zu finden“, berichtete er. „Gerechtigkeit ist ein wesentliches Element der Demokratie.“

In der Folge von Arbeitsmigration, Familiennachzug und Aufnahme von Geflüchteten, sei in den vergangenen Jahren eine ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt entstanden, führte überdies Mustafa Baklan aus, der Vorstandsvorsitzende des Deutsch-Türkischen Instituts für Arbeit und Bildung e.V. und des Verbandes Türkischer Unternehmer Rhein-Neckar e.V. „Diese Vielfalt stellt eine Bereicherung für unsere Gesellschaft dar“, erkannte er. „Das Grundgesetz garantiert die kulturelle Freiheit aller hier lebenden Menschen“, es biete auch den Nicht-Deutschen Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten, die in den Verfassungen einiger Herkunftsländer so nicht vorgesehen seien. Dass diese Verfassungsprinzipien auch auf Migranten Anwendung finden, sei keine Selbstverständlichkeit. „Auch in Deutschland war dies zunächst nicht so. So waren Unternehmensgründungen und Selbständigkeit der ersten Generation der Arbeitsmigranten zunächst nicht gestattet.“

1973 verfügte die Bundesregierung den sogenannten „Anwerbestopp“ aufgrund von Wirtschaft- und Öl-Krise. In Folge dieser Politik seien viele Menschen in großer Sorge um ihre Existenz gewesen. Baklan betonte, dass bis Mitte der 80er Jahre die erste und zweite Generation der Arbeitsmigranten keine Unternehmen gründen durften. Sie mussten am Rande der Legalität handeln, um ein eigenes Gewerbe aufzubauen. Dass die Freiheit der Unternehmensgründung in der Folge doch auch auf Migranten Anwendung fand, dokumentiere die Kraft des Grundgesetzes, ein Gemeinwohl zu fordern und zu ermöglichen, dass alle umfasse, die in diesem Land leben. Die 80.000 ehemaligen „Gastarbeiter-Kinder“ schaffen heute als Unternehmer für ca. 400.000 Menschen aller Nationalitäten  Arbeitsplätze. Auch Baklan betonte: „Die Bildung ist der Schlüssel für die Zukunft.“

In seinem erkenntnisreichen Impulsvortrag zum Thema „Verkannte Potenziale von Zuwanderern im Bildungskontext“ wies Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan darauf hin, dass Hochbegabung in allen Kulturen gleich häufig vorkomme. Trotzdem seien Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in Begabtenförderungsprogrammen unterrepräsentiert und haben weniger Erfolg in der Schule als Einheimische. Hochbegabung sei nicht nur eine Frage des Intelligenzquotienten, betonte der Psychologe. „Wir haben hier einen verengten Blick auf das, was in Westeuropa als kulturell außergewöhnlich gut gilt“. Als weitere „Mechanismen der Verkennung“ nannte Uslucan etwa Tests, die so sprachlastig oder auf die hiesige Kultur fokussiert sind, dass Zuwandererkinder alleine deshalb nicht ihre Stärken zeigen können. Der Forscher tritt für einen Perspektivenwechsel im Migrationsdiskurs ein: „Wir brauchen nicht diese defizitorientierte Perspektive, was Zuwandererkinder alles nicht können, sondern sollten sehen, was sie können.“ So sei der Sprachschatz eines bilingualen Kindes vielleicht auf die zwei Sprachen verteilt – wenn man es nur in einer Sprache teste, könne man das Potenzial des Kindes nicht erfassen.

Zu dem Impulsvortrag schloss sich eine angeregte Diskussionen zwischen dem Professor für Moderne Türkeistudien und Integrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen sowie stellvertretenden Vorsitzenden des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration und den Gästen im Auditorium an. Moderiert wurde die Gesprächsrunde von Prof. Dr. Lars Castellucci, Mitglied des Deutschen Bundestags und Professor für Nachhaltiges Management, insbesondere Integrations- und Diversity Management, an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) Mannheim. Beim abschließenden „Get Together“ konnten sich die Gäste hiernach auch im persönlichen Gespräch begegnen.

Mannheimer Morgen, 31.05.2017, S.11